Konsens auch im Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig

Vor mehr als acht Jahren äußerte das Bundesverfassungsgericht einen inzwischen vielzitierten Satz:

„Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung.“ (BVerfGK 10, 275, NJW-RR 2007, 1073, Volltext)

Was hat es damit auf sich?

Besser Konsens als Streitentscheid

Das Verfassungsgericht befand damals über die Zulässigkeit der obligatorischen Schlichtung nach 15a EGZPO als Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Zivilklage. Im Raum stand eine Verletzung des Justizgewährungsanspruchs durch eine übermäßige Erschwerung der Anrufung der Gerichte. Indes sah das BVerfG die Justizgewährung gerade nicht in problematischem Umfang eingeschränkt:

„Der möglichen Beeinträchtigung [des Justizgewährungsanspruchs] stehen hinreichende Vorteile für die Rechtsuchenden gegenüber. Im Erfolgsfalle führt die außergerichtliche Streitschlichtung dazu, dass eine Inanspruchnahme der staatlichen Gerichte wegen der schon erreichten Einigung entfällt, so dass die Streitschlichtung für die Betroffenen kostengünstiger und vielfach wohl auch schneller erfolgen kann als eine gerichtliche Auseinandersetzung. Führt sie zu Lösungen, die in der Rechtsordnung so nicht vorgesehen sind, die von den Betroffenen aber – wie ihr Konsens zeigt – als gerecht empfunden werden, dann deutet auch dies auf eine befriedende Bewältigung des Konflikts hin.“

Mit anderen Worten: Es gibt gute Gründe für eine Einigung außerhalb von Gerichten und für Lösungen, die sich nicht am geltenden Recht orientieren. Eine Entscheidung durch die staatliche Justiz kann in diesen Fällen verzichtbar sein, gerade wenn die Parteien mit ihrer außergerichtlichen Lösung zufrieden sind.

Staatliche Förderung konsensualer Konfliktlösung?

Die Grenzen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich bereits aus ihrem Wortlaut: Zum einen hat das Gericht nur geäußert, dass eine konsensuale Konfliktlösung grundsätzlich einem richterlichen Streitentscheid vorzuziehen sei. Zu jedem Grundsatz gibt es eine Ausnahme; bei bestimmten Falltypen kann also womöglich auch ein Gerichtsurteil das erste Mittel der Wahl sein. Zum anderen hat das BVerfG es mit Blick auf § 15a EGZPO und dessen Ausführungsgesetze zwar für möglich, nicht aber für zwingend gehalten, dass der Staat die konsensuale Konfliktlösung fördert oder seine Bürger gar dahin drängt. Freilich gibt es namhafte Stimmen, die den Staat bei der Förderung einvernehmlicher Streitbeilegung über die Entscheidung des Verfassungsgerichts hinaus tatsächlich in der Pflicht sehen: So äußerte etwa der ehemalige BGH-Präsident Professor Dr. Günter Hirsch bei einer Veranstaltung des Munich Center for Dispute Resolution (MuCDR) im November 2013 die Einschätzung, der Sozialstaat verpflichte zu einer Ergänzung des staatlichen Gerichtsverfahrens durch konsensorientierte Verfahren; dies entspreche einem modernen Rechts- und Gesellschaftsverständnis und sei heute nicht mehr wegzudenken. Ob sich dem Sozialstaatsprinzip ein derart weit reichender Gestaltungsauftrag entnehmen lässt, ist freilich durchaus umstritten.

Kritik an der Entscheidung des BVerfG

Ausdrückliche Kritik an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts übt der Freiburger Professor Dr. Rolf Stürner. In einem Beitrag für die Zeitschrift für Zivilprozess (ZZP 127 (2014) 271, 325 Fn. 261, 331 Fn. 281) verweist er darauf, dass es sich bei dem verfassungsgerichtlichen Beschluss um eine Dreierentscheidung der 1. Kammer des Ersten Senats gehandelt habe, die vermutlich von einem vollen Senat nicht erneut in dieser Form getroffen werden dürfte. Man dürfe diese Entscheidung nicht als „eine Art verfassungsgerichtliche[n] Stempel zur allgemeinen Zulässigkeit obligatorischer Schlichtungsverfahren“ interpretieren.

„Vor diesem Hintergrund erweist sich die These der Kammerentscheidung … in dieser Allgemeinheit als kurzsichtig, übereilt und angesichts einer reichhaltigen literarischen Aufbereitung des Werts und Unwerts vergleichsweiser Konfliktlösung auch als ausgesprochen unausgewogen… Ein solcher gedanklicher Ausrutscher sollte auch einer Kammer des BVerfG in einer solch grundsätzlichen rechtspolitischen Frage eigentlich nicht unterlaufen, zumal im Zeitpunkt der Entscheidung die US-amerikanische Entwicklung zur massenhaften Privatisierung der Ziviljustiz mit ihren mittelbaren und teilweise sehr unmittelbaren Einigungszwängen bereits vielfältiger Kritik in den USA selbst und in Europa ausgesetzt war.“