In einem Beitrag für die Neue Juristische Wochenschrift (NJW) geht der Hannoveraner Professor Dr. Christian Wolf den Ursachen für die sinkende Zahl von Zivilprozessen auf den Grund.
Prozessflut weicht Prozessschwund
Bereits im Sommer 2014 hatte die Ministerialdirektorin im BMJV Marie Luise Graf-Schlicker im Anwaltsblatt (AnwBl 2014, 573-577, pdf) mit Zahlen untermauert, dass die Fallzahlen vor Zivilgerichten seit Jahren kontinuierlich zurückgehen. Welche Gründe für diesen Rückgang verantwortlich sind, ist einstweilen unklar und wurde insbesondere im Umfeld des 70. Deutschen Juristentages 2014 kontrovers diskutiert (siehe die Beiträge in diesem Blog sowie im ZPOblog). In seinem NJW-Beitrag äußert nun Wolf, Schiedsgerichtsbarkeit und Mediation schieden aufgrund vergleichsweise geringer Fallzahlen als wesentliche Ursache für den Prozessschwund aus. Es sei allerdings durchaus denkbar, dass der Trend zur vermehrten Nutzung der Verbraucherschlichtung die sinkenden Fallzahlen erklären könne.
Jhering: Verteidigung materieller Rechte als Pflicht gegenüber dem Gemeinwesen
Die Privatisierung der Justiz in Verbrauchersachen sieht Wolf allerdings sehr kritisch. Er erinnert an Rudolf von Jhering, der die Verteidigung materieller Rechte als Pflicht nicht nur gegenüber sich selbst, sondern auch gegenüber dem Gemeinwesen verstanden habe. Freilich frage sich heute, ob Jhering veraltet sei, zeugten doch die hohen Prozesszinsen, das 2012 in Kraft getretene Mediationsgesetz und das aktuell als Regierungsentwurf vorliegende Verbraucherstreitbeilegungsgesetz davon, dass der Gesetzgeber den Streitparteien möglichst außergerichtliche Lösungen schmackhaft machen wolle. Dieser regulatorische Ansatz sei aber widersprüchlich: Einerseits werde das materielle Verbraucherrecht mehr und mehr verdichtet, andererseits beklage man wachsende Komplexität, die den Zugang zum Recht erschwere, und entziehe den Verbrauchern die staatlich-justizielle Hilfe bei der Durchsetzung ihrer Rechte. Es bestehe Grund zur Sorge vor einem „basarartigen Verhandlungsprozess“, der ein Stück weit einer Selbstaufgabe der Rechtsordnung gleichkomme. Es könne nicht im Interesse des Rechtsstaats sein, wenn die Bevölkerung im Zuge dieser Entwicklung das Vertrauen in das Recht verliert.