Einführung von Gruppenverfahren?

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag hat den Entwurf eines Gesetzes über die Einführung von Gruppenverfahren vorgelegt. Mit der Einführung dieses kollektiven Rechtsschutzverfahrens soll verhindert werden, dass sich Rechtsbruch lohnt und insbesondere von großen Unternehmen mangels effektiver Rechtsdurchsetzung systematisch begangen wird. Dabei ist der Begriff des Gruppenverfahrens inhaltlich weitgehend identisch mit demjenigen der kontrovers diskutierten Sammelklage.

Privatrechtsdurchsetzung mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts

Der Begründung des Gesetzentwurfs zufolge dient das Gesetz speziell der Rechtsdurchsetzung im Bereich von Alltagsgütern wie Strom und Gas, der Wohnraummiete, der Personenbeförderung und der Risikovorsorge. Das Vertragsrecht werde hier heute noch immer mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts, d.h. insbesondere über Individualklagen, durchgesetzt. Weil aber die individuelle Rechtsdurchsetzung infolge eines unzureichenden Zugangs zum Recht nur einen Bruchteil der tatsächlichen Rechtsverstöße erfasse, leide das Maß der Rechtsdurchsetzung inzwischen ganz erheblich. Vor diesem Hintergrund votiert die Fraktion von Bündnis 90/Die Grüne nunmehr für eine Verallgemeinerung der bisher nur punktuell im Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) geregelten Anspruchsbündelung und für deren Integration in die Zivilprozessordnung als neue §§ 606 ff. ZPO.

Charakteristika des vorgeschlagenen Gruppenverfahrens

Nach dem vorgelegten Entwurf soll das Gruppenverfahren in der Regel vor dem Landgericht stattfinden. Auf Klägerseite soll ein sog. Gruppenkläger die Führung übernehmen (§§ 606 Nr. 4, 619 Abs. 1 ZPO-E). Der Rest der Anspruchsteller nimmt die weitgehend passive Rolle sog. Teilnehmer ein (§ 620 Abs. 3 ZPO-E), die ihren Anspruch auf rechtliches Gehör auf den Gruppenkläger delegieren. Der Gruppenkläger kann unter Beifügung seiner eigenen und mindestens neun weiterer Teilnahmeerklärungen Klage erheben (§ 609 Abs. 1 Nr. 3 ZPO-E). Es folgt ein gerichtlicher Eröffnungsbeschluss (§ 612 ZPO-E), die öffentliche Bekanntmachung der Klage in einem Klageregister (§ 614 Abs. 1 ZPO-E) sowie die gerichtliche Setzung einer Frist zum Anschluss weiterer Teilnehmer (§ 614 Abs. 2 ZPO-E, sog. opt-in-Modell). Nach Ablauf dieser in der Regel dreimonatigen Frist sollen Teilnehmer aber in der Regel bis zum Ende der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung auch noch verspätet zugelassen werden können (§ 617 ZPO-E).

Verfahrenskosten im Gruppenverfahren

Der vorgelegte Entwurf sieht in § 615 S. 2 ZPO-E vor, dass sich nicht nur der Gruppenkläger, sondern auch alle Teilnehmer anwaltlich vertreten lassen müssen. Dieses Erfordernis soll nach der Entwurfsbegründung formwidrige Erklärungen verhindern und eine ausreichende Beratung der Teilnehmer sicherstellen. Gleichzeitig geht der Anwaltszwang für jeden Teilnehmer mit einem Kostenrisiko einher. Gemäß §§ 621 Abs. 1 S. 2, 629 Abs. 1 ZPO-E sollen die Teilnehmer die Verfahrenskosten pro rata zahlen. Das Gesamtkostenrisiko umfasst dabei die üblichen Gebühren des gegnerischen Rechtsanwalts, 0,8 Gebühren für den eigenen Rechtsanwalt (Nr. 3339 VV RVG-E) und 0,5 Gerichtskosten (Nr. 1902 KV GKG-E). Für den einzelnen Teilnehmer sind die Kosten durch § 629 Abs. 2 ZPO-E gedeckelt auf den vierfachen Satz der Gebühren nach § 13 RVG. Das Kostenrisiko kann allerdings auch bei minimalen Klagebeträgen wegen des Mindestsatzes anwaltlicher und gerichtlicher Gebühren nicht unter € 73,19 fallen. Wie die vorlegende Fraktion selbst sieht, wird das vorgeschlagene Gruppenverfahren das rationale Desinteresse der Verbraucher gerade bei kleinen Forderungen in Höhe ein- oder zweistelliger Beträge kaum beseitigen. Es mag aber die faktische Grenze, ab der sich jemand für die aktive Durchsetzung seiner Rechte entscheidet, zumindest ein Stück weit nach unten verschieben und dadurch das Maß der Rechtsdurchsetzung stärken. Dabei dient es der Rechtsdurchsetzung, wenn die Verfahren nicht durch einen Vergleich, sondern durch Urteil entschieden werden. Inwieweit dies zu erwarten ist, bleibt abzuwarten; die US-amerikanischen Erfahrungen mit Sammelklagen gehen in die Richtung, dass der weit überwiegende Teil der Verfahren verglichen wird, gerade weil die beteiligten Unternehmen die Präzedenzwirkung eines Urteils scheuen.

Elektronisches Informationssystem für Gruppenteilnehmer

Interessant ist schließlich, dass der Gesetzesvorschlag in § 620 Abs. 2 ZPO-E vorsieht, dass die Verfahrenskommunikation mit den Teilnehmern  über ein elektronisches Informationssystem erfolgen soll. Diese technische Unterstützung des Prozesses ist aus Effizienzgesichtspunkten sehr zu begrüßen. Eine weitere für Gruppenverfahren typische Herausforderung könnte sich ebenfalls mit technischer Hilfe bewältigen lassen: Damit eine Gruppenklage überhaupt zulässig ist, müssen sich mindestens zehn Anspruchsteller finden und zusammenschließen. Im Konfliktfall neun weitere Forderungsprätendenten zu finden, die Partei eines gleich gelagerten Rechtsstreits sind und zudem das Kostenrisiko einer Klage eingehen wollen, erscheint a priori nicht einfach. Allerdings gibt es gegenwärtig bereits Rechtsdienstleistungsportale, die mit Formularen zur Registrierung und Bündelung solcher Ansprüche experimentieren. Auf dieser Grundlage ließe sich der Zusammenschluss von Verfahrensteilnehmern erheblich erleichtern. Eine Alternative wäre, dass Verbraucherzentralen diese Mittleraufgabe übernehmen; diese wiederum können nach § 611 Nr. 2 ZPO-E freilich auch direkt selbst ein Gruppenverfahren anstrengen. Das wiederum wirft die Frage auf, welche Vor- und Nachteile das vorgeschlagene Gruppenverfahren gegenüber der bereits de lege lata verfügbaren Einziehungsklage nach § 79 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 ZPO hat.

Der Gesetzesvorschlag ist online abrufbar als BT-Drucksache 18/1464 auf den Seiten des Informationsdienstes des Deutschen Bundestages.