Institutionelle Rechtsverwirklichung durch außergerichtliche Streitbeilegung?

In einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW 2016, 1367-1371) erörtert der Bundesverfassungsrichter Reinhard Gaier, inwieweit Schlichtung, Schiedsgerichte und staatliche Justiz als drei Akteure in einem System institutioneller Rechtsverwirklichung zusammenwirken können.

Sinkende Fallzahlen in der Ziviljustiz

Ausgangspunkt für den Beitrag von Gaier sind die sinkenden Fallzahlen in der staatlichen Ziviljustiz. Gaier weist darauf hin, dass den Zivilgerichten in den vergangenen 20 Jahren etwa 740.000 Fälle pro Jahr abhanden gekommen sind. Auch wenn dieses Phänomen bisweilen als mögliche Folge vermehrter außergerichtlicher Streitbeilegung begriffen werde (vgl. dazu bereits Wolf, NJW 2015, 1656-1661), sei die Entwicklung nicht allein durch das Vordringen von Schiedsgerichten und Schlichtungsstellen zu erklären. Gerade mit Blick auf die jüngsten Schweizer Erfahrungen erscheine es wesentlich plausibler, dass sich Anspruchsprätendenten mit Blick auf das hohe Kostenrisiko einer Zivilklage gegen die Anrufung staatlicher Gerichte entschlössen:

Offenkundig scheuen Verbraucher wie Unternehmen zunehmend den Gang zu den staatlichen Gerichten, sondern entscheiden sich – nach sachkundiger juristischer Beratung – für eine Lösung im Konsens oder aber für die Aufgabe einer völlig aussichtlosen oder nur schwer durchsetzbaren Rechtsposition.

Um dieser Problematik zu begegnen, verweist Gaier auf die Notwendigkeit einer effektiven Beratungs- und Prozesskostenhilfe, fordert aber auch, die Zulassung anwaltlicher Erfolgshonorare zu erwägen.

Vorschlag: Streitbeilegung als Beitrag zur Rechtsverwirklichung begreifen und Vorlagemöglichkeiten schaffen

Vor allem aber wirbt Gaier dafür, die außergerichtliche Streitbeilegung nicht als Gegenspieler der Justiz zu begreifen, sondern sie in ein System institutioneller Rechtsverwirklichung einzubinden. Namentlich die Verbraucherschlichtung könne einen Beitrag zur Rechtsverwirklichung leisten, denn Verbrauchern, deren Rechtsdurchsetzungsbedürfnis die Schlichtung nicht erfüllen könne, stehe die Ziviljustiz nach wie vor offen. Mit Blick auf diese neue Option zur Lösung geringwertiger Konflikte könne man das amtsgerichtliche Verfahren nach billigem Ermessen nach § 495a ZPO durchaus abschaffen. Soweit sich in außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahren ungeklärte Rechtsfragen ergäben, sei die Schaffung einer Vorlagemöglichkeit eben dieser Rechtsfragen an staatliche Gerichte denkbar.

Inwieweit wird Recht verwirklicht?

Gaier will das Verhältnis zwischen Justiz und außergerichtlicher Streitbeilegung insofern nicht als Wettbewerb, sondern als Netzwerk verstanden wissen, in dem jeder Akteur seinen Platz habe. Eine stille Voraussetzung dieses Systemverständnisses dürfte es freilich sein, dass die Streitparteien in einem Schlichtungsverfahren genau wissen, wie nah am geltenden Recht der Schlichterspruch ist und auf welche Rechte sie verzichten, wenn sie einem Kompromiss zustimmen. Je weniger Transparenz hier besteht, desto größer erscheint die Gefahr, dass es nicht das geltende Recht ist, das in der Schlichtung verwirklicht wird. Dies gilt umso mehr, als neben den Streitparteien häufig auch noch interessierte Dritte ein Wörtchen mitreden: In einem Land, in dem vier von zehn Haushalten rechtsschutzversichert sind, ist der Einfluss von Rechtsschutzversicherern auf das Verhalten von anspruchstellenden Verbrauchern vermutlich nicht zu unterschätzen.