Neue europäische Verbandsklage: Die EU macht ernst beim kollektiven Rechtsschutz

Die Europäische Union treibt die Weiterentwicklung des kollektiven Rechtsschutzes in Europa voran. Die Verhandlungsführer der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Rats der EU haben am 22. Juni 2020 die politische Verständigung zum Erlass einer Verbandsklagen-Richtlinie abgeschlossen. Damit erreicht die EU eine wichtige Etappe der Umsetzung des vor zwei Jahren angekündigten new deal for consumers. Worum geht es und was wird sich ändern?

Kerninhalt: Nicht Sammelklage, sondern verschärfte Verbandsklage

Die Europäische Union möchte ihre Mitgliedstaaten künftig verpflichten, eine Verbandsklage vorzuhalten, mit deren Hilfe qualifizierte Einrichtungen gegen Unternehmen vorgehen können. Um eine echte europäische Sammelklage handelt es sich dabei aber nicht: Denn einerseits gibt die EU nur Rahmenregeln vor, die die Mitgliedstaaten in ihre nationalen Zivilprozessrechte umsetzen müssen. Und andererseits sieht die EU nicht unbedingt die für Sammelklagen charakteristische Parteistellung der betroffenen Verbraucher vor, sondern setzt Verbraucherschutzorganisationen in die Klägerrolle. Um die Verbraucher gleichwohl in den Genuss der Früchte des Verfahrens zu bringen, plant die EU als klagestattgebende Entscheidung einen sog. Abhilfebeschluss: Obwohl die betroffenen Verbraucher nicht als Parteien am Verfahren beteiligt sind, soll das beklagte Unternehmen dazu verurteilt werden können, mit ihnen Verträge rückabzuwickeln oder Leistungen direkt an sie auszuzahlen.

Methode der Wahl: Semi-public law enforcement

Das Kalkül hinter den Plänen der EU: Der Staat möchte, dass sich Unternehmen an bestimmte Leitlinien des bürgerlichen Rechts halten, sieht sich aber zur Rechtsdurchsetzung in Eigenregie (public enforcement) nicht imstande. Gleichzeitig weiß er, dass sich weder Verbraucher noch die Konkurrenz im Markt nennenswert an der Rechtsdurchsetzung beteiligen (private enforcement). Um gleichwohl keinen Anreiz zum Rechtsbruch entstehen zu lassen, sollen nun Verbände die Rechtsdurchsetzungsdefizite schließen. Diese nehmen eine nicht im Detail geregelte, privat-öffentliche Zwitterstellung ein: Sie haben sich der Durchsetzung privater Rechte im Massengeschäft verschrieben, sind aber öffentlich finanziert. Zugleich sind ihre Binnenstrukturen weniger strikt als diejenigen einer staatlichen Behörde. Das macht sie im besten Falle agil und flexibel, feit sie allerdings auch weniger gegen Kritik, sie verfolgten zuweilen verbraucherferne Eigeninteressen. Das ließ sich zuletzt in der Diskussion um die Rücknahme der Musterfeststellungsklage gegen die Volkswagen AG vor dem OLG Braunschweig beobachten. Nach einem Entgegenkommen der Beklagten sah der klageführende Verbraucherzentrale Bundesverband seine Klageziele im Wesentlichen erreicht und verzichtete daher darauf, ein Musterfeststellungsurteil zu erstreiten. Das handelte ihm den Vorwurf ein, er umgehe das Quorum des § 611 Abs. 5 S. 1 ZPO und lasse die an einem Urteil interessierten Verbraucher alleine zurück.

Ein Update für die Musterfeststellungsklage

Tatsächlich ist es auch die Musterfeststellungsklage, die der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der anstehenden Verbandsklagen-Richtlinie in den Blick nehmen wird. Die ersten Erfahrungen mit diesem Ende 2018 eilends gestrickten Instrument haben eine Vielzahl von prozessrechtlichen Problemen offenbart (siehe die Beiträge dazu im ZPOblog). Der Gesetzgeber dürfte die neue Richtlinie daher zum Anlass nehmen, die §§ 606 ff. ZPO grundlegend zu überarbeiten. Die Diskussion über die Umsetzungsoptionen dürfte mit dem Inkrafttreten der Richtlinie voraussichtlich im dritten Quartal beginnen und noch in der laufenden Legislatur zu konkreten Vorschlägen führen. Die neuen Regeln werden dann voraussichtlich im Laufe des Jahres 2022 das Gesetzgebungsverfahren durchlaufen und Geltung erlangen. Es erscheint dabei durchaus denkbar, dass dieses Update der bisher als schwerfällig kritisierten Musterfeststellungsklage entscheidenden Vortrieb verschafft. Das ist auch deswegen interessant, weil die EU den Anwendungsbereich der neuen Regeln nicht nur in klassischen Feldern wie bei Finanzdienstleistungen und im Reise- und Passagierrecht, sondern explizit auch im Datenschutzrecht sieht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…