Kurz vor Weihnachten hat der Bundesrat die Bundesregierung aufgefordert, über gesetzliche Regeln für eine automatische Vertragsentschädigung nachzudenken (BR-Drucksache 571/18(B), pdf). Was hat der Bundesrat im Sinn und welche Erwartungen sind damit verbunden?
Anlass: Unzureichende Durchsetzung von Passagierrechten
Der Bundesrat hat beobachtet, dass es im Bahn- und Flugverkehr seit vielen Jahren erhebliche Verspätungen gibt. Die dafür europarechtlich in den Verordnungen Nr. 261/2004 und 1371/2007 vorgesehenen pauschalen Entschädigungsansprüche können dies augenscheinlich nicht verhindern. Die Gründe dafür sind vielfältig: Teilweise kennen die Passagiere ihre Rechte nicht, teilweise lassen sie sich mit ihren Forderungen von den Mobilitätsdienstleistern abwimmeln, teilweise sind ihnen auch die zur Verfügung stehenden Rechtsdurchsetzungsverfahren zu kompliziert oder sind ihnen die modernen, internetbasierten Angebote schlicht nicht bekannt. Kommen die Kunden insofern nicht zu ihrem Recht, so das Kalkül des Bundesrats, muss eben das Recht zu den Kunden kommen.
Kernidee: Pauschale Entschädigungen automatisch auszahlen
An dieser Stelle möchte der Bundesrat ansetzen und den Rechtsschutz effektiver gestalten. Im O-Ton klingt das so:
„Es darf nicht die Regel sein, dass Transportgesellschaften den Ansprüchen ihrer Kundinnen und Kunden zunächst mit einem verwaltungstechnischen Abwehrreflex begegnen. Viel effektiver und gerechter wäre es, das System umzukehren und ein automatisiertes Entschädigungsverfahren gesetzlich verpflichtend zu machen. Jede Fluggesellschaft kennt die Buchungsdaten ihrer Fluggäste. Jede Bahngesellschaft kennt zumindest bei Online-Buchungen die Buchungsdaten ihrer Kunden. Es ist deshalb nicht einzusehen, warum Flug oder Zug per App gebucht werden können, die Entschädigung dann aber schriftlich auf komplizierten Formularen beantragt werden muss. Ziel sollte es daher sein, notfalls durch gesetzliche Maßnahmen ein antragsloses und automatisiertes Entschädigungsverfahren für die Transportunternehmen verpflichtend zu machen.“
Die digitaljuristische Szene nennt solche Mechanismen smart contracts – Verträge, die mit einer Vollzugssoftware verbunden sind und sich daher von selbst vollziehen.
Automatische Vertragsentschädigung: Wer hat’s erfunden?
Wo können smart consumer contracts den mit der Durchsetzung geringwertiger Forderungen üblicherweise verbundenen unverhältnismäßigen Aufwand erübrigen? Vorstellbar ist ein automatisiertes Entschädigungsverfahren natürlich vor allem bei gleichförmigen Massenverträgen, bei denen das Ob und Wie der Leistungserbringung digital nachvollziehbar ist. Denn hier lassen sich bestimmte typische Leistungsstörungen tatsächlich automatisch erkennen und mit einfachen Sanktionen wie einer Geldauszahlung verbinden. Soweit ersichtlich findet sich der Vorschlag eines smart contract für Fluggastrechte erstmals in einem Beitrag von Walter Blocher im Anwaltsblatt 2016, 612, 618 (pdf). Seinerzeit noch als freiwillige Selbstverpflichtung der Mobilitätsdienstleister erwogen, lautet der rechtspolitische Vorschlag heute, Mobilitätsdienstleister zur automatischen Auszahlung von Entschädigungsleistungen zu verpflichten. Der nun geäußerte Vorschlag des Bundesrats beruht auf einer Passage im aktuellen Koalitionsvertrag, in der sich die Koalitionsparteien dazu verpflichten, die automatische Vertragsentschädigung zu fördern und rechtssicher zu gestalten.
Der Clou: Verschiebung der Initiativlast
Da sich die Koalitionsparteien schon im Koalitionsvertrag zu diesem Ansatz bekannt haben, erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass die automatische Vertragsentschädigung noch in der laufenden Legislatur Gesetz wird. Wenn es dazu kommt, läge darin wohl mit die stärkste Effektuierung des Verbraucherschutzes in den vergangenen Jahren. Denn während andere auf Verbraucher gemünzte Konfliktlösungsverfahren wie die Verbraucherschlichtung nach dem VSBG oder die Musterfeststellungsklage nach §§ 606-614 ZPO die Transaktionskosten für die Rechtsdurchsetzung nur vermindern, lassen diese sich mit automatischen Entschädigungszahlungen auf Null stellen. Die Last, sich gegen den automatisch vollzogenen Status quo wehren zu müssen, trägt dann das Unternehmen. Mit dieser Verschiebung der Initiativlast ist das zentrale Problem der Rechtsdurchsetzung aus Sicht der Verbraucher beseitigt (so wohl zuerst mein Beitrag im Anwaltsblatt 2018, 86, 88, pdf; später auch Guggenberger, FAZ Einspruch v. 2. Mai 2018, html). Eine solche Rechtsdurchsetzung, ohne dass die Kunden einen Finger krümmen müssen, schafft sonst nur der von der Europäischen Kommission aktuell vorangetriebene, aber prozessual doch deutlich kompliziertere new deal for consumers.
Automatische Vertragsentschädigung: Alles klar soweit?
Lösen sich mit der automatischen Vertragsentschädigung nun alle jüngeren verbraucherverfahrensrechtlichen Herausforderungen in Wohlgefallen auf? Ganz so einfach dürfte es nicht sein. Zunächst einmal gibt es viele Fälle, die sich für die automatische Erfüllung von Sekundäransprüchen wenig eignen. Dazu gehören neben nicht-vertragsrechtlichen Streitigkeiten vor allem Fälle mit Leistungsstörungen, die nicht digital überprüfbar sind, und Fälle mit Rechtsfolgen, die sich nicht digital auslösen lassen. Aber auch dort, wo eine automatische Kompensation denkbar ist, muss der Gesetzgeber sorgsam vorgehen. Er wird etwa überlegen müssen, wer die Verspätungsdaten liefert und wer den Auszahlungsmechanismus verantwortet. Sinnvoll wäre auch, früh darüber nachzudenken, wie man mit automatischen Fehlbuchungen umgeht. Und schließlich mag man prognostizieren wollen, zu welchen bilanziellen Folgen die automatische Vertragsentschädigung bei den Mobilitätsdienstleistern führt und welche Effekte auf den Marktpreis der Beförderungsleistungen zu erwarten sind. Nicht dass man später feststellt, dass die Kunden mit weniger pünktlichen, aber deutlich günstigeren Flügen und Zügen viel zufriedener gewesen wären…
Literatur zum Thema
- Blocher, The next big thing: Blockchain – Bitcoin – Smart Contracts, AnwBl 2016, 612-618
- Brägelmann/Kaulartz (Hrsg.), Rechtshandbuch Smart Contracts, München: C. H. Beck, erscheint im Mai 2019
- Breidenbach, Embedded law, REthinking Law 0/2018, 38-41
- Fries, Smart Contracts: Brauchen schlaue Verträge noch Anwälte? AnwBl 2018, 86-90
- Fries, Smart consumer contracts: The end of civil procedure? Oxford Business Law Blog, 29. März 2018
- Fries/Paal (Hrsg.), Smart Contracts – schlaue Verträge? Tübingen: Mohr Siebeck 2019
- Guggenberger, Durchsetzung nach Datenlage, FAZ Einspruch v. 2. Mai 2018
- Heckelmann, Die rechtliche Einordnung von Smart Contracts, NJW 2018, 504-510
- Kaulartz, Herausforderungen bei der Gestaltung von Smart Contracts, InTeR 2016, 201-206
- Kaulartz/Heckmann, Smart Contracts – Anwendungen der Blockchain-Technologie, CR 2016, 618-624
- Kuhlmann, Legal Tech – Zugang zum Recht im Zeitalter der Digitalisierung, in: Bär/Grädler/Mayr (Hrsg.), Digitalisierung im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Recht, Berlin: Springer 2018, S. 87-101
- Kuhlmann, Smart Contracts & Embedded Legal Knowledge, REthinking Law 1/2018, 32-34
- Linardatos, Smart Contracts – einige klarstellende Bemerkungen, K&R 2018, 85-92
- Möslein, Conflict of Laws and Codes: Defining the Boundaries of Digital Jurisdictions, online auf SSRN
- Paulus/Matzke, Digitalisierung und private Rechtsdurchsetzung: Relativierung der Zwangsvollstreckung durch smarte IT-Lösungen? CR 2017, 769-778
- Savelyev, Contract law 2.0: „Smart“ Contracts as the beginning of the end of classic contract law, 26 Inf. & Comm. Technol. L. 2017, 116-134
- Sklaroff, Smart Contracts and the Cost of Inflexibility, 166 Penn. L. Rev. 2017, 263